Unterscheiden des Unterscheidens, Alexandra Karentzos

Der Orient, Die Fremde, Transcript Verlag,  2006
Ironische Techniken in der Kunst Parastou Forouhars

Die Theorieproduktion der Gender Studies und des Postkolonialismus zeichnet sich durch eine Fülle unterschiedlicher Ansätze aus. Diese Heterogenität ist für die Forschungszusammenhänge wesentlich: Das Hybride ist nicht nur Gegenstand der Theorien, sondern auch in diesen selbst angelegt. Disparate Aspekte sollen in ihrer irreduziblen Vielheit diskutiert werden, ohne auf ein Zentrum oder eine synthetisierende Perspektive festgeschrieben zu werden. In dieser Forderung liegt ein Misstrauen gegenüber totalisierenden Theoriebildungen Europas. Edward Said etwa grenzt von diesen die ›travelling theories‹ ab, um die Verweigerung gegenüber eindimensionalen Festlegungen deutlich zu machen. Es geht um eine kontrapunktische, vielstimmige Lektüre. Solche Theorien verstehen sich zugleich als strategische Intervention und positionieren sich politisch.
Wenn dies einige Grundzüge der Gender Studies und postkolonialer Forschungen sind, scheint es zunächst nicht verwunderlich, dass die Systemtheorie Niklas Luhmanns in diesem Kontext bisher kaum herangezogen wurde. Handelt es sich doch auf der einen Seite um Theorien mit politischem Impetus, auf der anderen Seite, bei Luhmann, um eine Theorie, die eher als distanziert und deskriptiv gilt. Zudem erhebt die Systemtheorie einen Universalitätsanspruch, wenn es ihr darum geht, die gesamte Gesellschaft beschreiben zu können – nimmt sie damit nicht eine totalisierende Perspektive ein? Widerspricht dies nicht dem Postulat, die eigene Sicht als ›partiale Perspektive‹ im Sinne von Donna Haraways Konzept des ›situierten Wissens‹ zu reflektieren?[1] Keineswegs. Auch die Systemtheorie sieht, dass sie nur über eine begrenzte, relative und voraussetzungsvolle Sicht verfügt, die ›blinde Flecken‹ hat. Die Kontingenz des eigenen Beobachtungsstandpunkts gilt ihr als unhintergehbar. Indem sie von einem Polyperspektivismus in der Gesellschaft ausgeht, bietet sie sich zur Diskussion in den Gender und Postcolonial Studies an;[2] daher ist ein Austausch denkbar, der sowohl für die Geschlechter- und postkoloniale Forschung als auch für die Systemtheorie produktiv sein kann.

So lassen sich etwa die subversiven Strategien näher betrachten, die in Gender- und postkolonialen Theorien unter Begriffen wie ›Ironie‹, ›Parodie‹ und ›Mimikry‹ gefasst werden. Haraway erklärt, dass Ironie von Widersprüchen handelt, die sich nicht auflösen lassen, sowie von Humor und ernsthaftem Spiel.[3] Sie gebraucht den Begriff der Ironie, um eine Position zu markieren, die Heterogenes auf paradoxe Art verbindet und dadurch starre dichotome Strukturen unterläuft.

Ebenso wie Haraway Ironie versteht Judith Butler Parodie als politische Methode der Subversion. Durch Parodie werden Geschlechterkonstrukte wiederholt und zugleich konterkariert. Wiederholungen sind grundlegend für den performativen Prozess der Geschlechterkonstitution: Durch unentwegte Nachahmung normativer Setzungen wird die Kategorie des Geschlechts hervorgebracht.[4] Die Wiederholung lässt jeweils eine Differenz zum Vorhergehenden entstehen, da sie nicht zur vollkommenen Deckung gelangen kann. Sie enthält demnach immer das Potential der Verschiebung. An dieser Stelle setzt die Parodie an und legt die Imitationsstruktur der Geschlechtsidentität offen.[5] Geschlecht gilt damit nicht mehr als etwas Ursprüngliches, sondern als Ergebnis eines unentwegten Prozesses der Sinnstiftung. Die Vorstellung einer ursprünglichen, zugrunde liegenden Männlichkeit oder Weiblichkeit erweist sich als Mythos. Was imitiert wird, ist kein Original, sondern selbst schon eine Imitation.[6]

Dieser Butlersche Begriff der Parodie ist wiederum analog zu Homi Bhabhas Konzept der Mimikry.[7] Bhabha zählt Mimikry und Maskerade zu den Widerstandsstrategien, mit denen rassistische Stereotype umgeschrieben und transformiert werden können. Die verfehlte Wiederholung dient auch hier als subversive Technik und strategische Intervention. Das Phantasma der immer schon bestehenden, einheitlichen Identität wird so, laut Bhabha, durch Mimikry verspottet.[8] Damit erweist sich die Ordnung der geschlechtlichen und rassischen Repräsentation als instabil und kontingent. Geschlecht und Rasse erscheinen nicht als Naturgegebenheiten, sondern als Ergebnis von Signifikationsprozessen, das immer auch anders ausfallen kann.

Diese subversiven Techniken lassen sich mit der Systemtheorie eingehender beschreiben. Luhmanns Modell der Beobachtung zweiter Ordnung eignet sich besonders dazu, die von Haraway, Butler und Bhabha genannten Verfahren zu verdeutlichen. Die ironischen und parodistischen Wiederholungen beruhen auf einer Beobachtung zweiter Ordnung. Ich werde im Folgenden zunächst diesen Begriff erläutern und ihn dann exemplarisch auf Werke der Künstlerin Parastou Forouhar anwenden.

Zur Theorie der Beobachtung
Jede Beobachtung beruht nach Luhmann auf einer Unterscheidung: Man sieht etwas nur im Unterschied zu etwas anderem. Eine Person im Schleier zum Beispiel wird gewöhnlich als Frau und – im westeuropäischen Kontext – als Fremde wahrgenommen; dieser Beobachtung liegen unausgesprochen die Unterscheidungen Mann/Frau und Eigenes/Fremdes zugrunde. Eine Sicht, die auf diese Weise Geschlechter und Zugehörigkeiten voneinander abgrenzt, als ob sie vorfindbar wären, ist eine Beobachtung erster Ordnung. Sie kann ›ontologisch‹ genannt werden, insofern sie nicht mitsieht, dass das Sichtbare von der gewählten Unterscheidung und von deren Implikationen abhängt. Beispielsweise gelten Männer und Frauen in diesem Zusammenhang als naturgegebene Wesenheiten, ohne dass reflektiert wird, auf welchen Voraussetzungen diese Annahme beruht.

Aufgelöst werden die quasi-ontologischen Setzungen dagegen, wenn die Beobachtung ihrerseits beobachtet wird. Systemtheoretisch formuliert, handelt es sich um eine Beobachtung zweiter Ordnung.[9] In ihr richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Unterscheidungen, die der Beobachtung erster Ordnung zugrunde liegen. Die Unterscheidungen erweisen sich als kontingent, es wären auch andere möglich gewesen. Die in der Beobachtung erster Ordnung gewählten Unterscheidungen erscheinen restriktiv; sie eröffnen nicht nur eine Sicht, sondern führen zugleich auch ›blinde Flecken‹ mit sich, die in der Beobachtung zweiter Ordnung deutlich werden. Allerdings erlaubt auch die Beobachtung zweiter Ordnung keinen alles umfassenden Über-Blick. Sie unterliegt wiederum den Beschränkungen, die sich aus den von ihr verwendeten Unterscheidungen ergeben. Aus der Beobachtung zweiter Ordnung geht ein polykontexturaler Sinnzusammenhang hervor, in dem es eine Vielzahl von Unterscheidungen gibt, ohne eine einzelne Beobachtungsposition über alle anderen zu stellen.

Gerade hierin liegt ein Potential, das für die Gender und Postcolonial Studies nutzbar gemacht werden kann: Die Beobachtung zweiter Ordnung stellt eine Formenvielfalt und ein Bewusstsein anderer Möglichkeiten her, eine Deontologisierung und Enthierarchisierung, die für diese Theorien entscheidend sind. Auch Identitätskonzepte erweisen sich aus der Beobachtung zweiter Ordnung als brüchig und nicht-ursprünglich, da sie immer schon Unterscheidungen voraussetzen. Vor allem aber bietet der Begriff der Beobachtung zweiter Ordnung einen Bezugsrahmen für die Analyse ironischer und parodistischer Techniken.[10] Diese lassen sich als Beobachtungen zweiter Ordnung beschreiben, da sie die Unterscheidungen der Beobachtungen erster Ordnung distanziert wiederholen und ihnen ihren absoluten Geltungsanspruch streitig machen. So wird zum Beispiel die Unterscheidung von Männlichem und Weiblichem nicht reproduziert, sondern problematisiert: Sie wird zum Gegenstand der Beobachtung. Auf diese Weise ist es möglich, Setzungen spielerisch zu zitieren und sie damit zu unterlaufen. Mit den systemtheoretischen Begriffen lässt sich folglich exakt der Einsatzpunkt der Ironie und Maskerade in zitationellen Prozessen beschreiben. Dadurch können geschlechtertheoretische und postkoloniale Ansätze von Butler, Bhabha und Haraway mit Luhmanns systemtheoretischem Konzept kombiniert werden.[11]

Im Anschluss an Luhmann lässt sich auch die Unterschiedlichkeit der systemischen Kontexte fokussieren. So kann etwa der spezifische Rahmen künstlerischer Formen der Ironie berücksichtigt werden. Dabei ist es möglich, die Konzeption der Ironie als einer Beobachtung zweiter Ordnung auf Bildwerke anzuwenden, da auch Bilder den Gebrauch von Unterscheidungen vorführen können, wie es der Beobachtung zweiter Ordnung entspricht. In Bildern manifestiert sich, wie das Kunstsystem seine Umwelt – unter anderem die Ordnung der Geschlechter und Ethnien – beobachtet.[12] Dadurch können die Werke den in der Umwelt üblichen Gebrauch von Unterscheidungen wie männlich/weiblich oder heimisch/fremd zitieren und umcodieren.

Als Beispiel aus der gegenwärtigen Kunst für ein solches Umcodieren durch Beobachtung zweiter Ordnung werde ich Arbeiten  Parastou Forouhars untersuchen.

Parastou Forouhar: Verkehrte Ordnung durch Schilder
Wenn Werke einer iranischen Künstlerin präsentiert werden, stehen sofort bestimmte Erwartungen im Raum. Schleier, Tschador, Bart und Turban sind Zeichen der visuellen Repräsentation des ›Arabischen‹ – tagtäglich führen uns die Massenmedien dieses Bild vor. Die in Frankfurt lebende Künstlerin Parastou Forouhar erfüllt nur scheinbar diese Erwartungen, spielt aber mit ihnen. Sie zeigt dem westlichen Blick nicht das ›Orientalische‹, sondern thematisiert den westlichen Blick auf das Orientalische – die Schemata, die bei der Konstruktion des Orients zum Tragen kommen. Die Künstlerin beobachtet gleichsam, wie beobachtet wird.

Die Serie der Schilder verwendet Piktogramme, das heißt allgemein verständliche Bildsymbole. Es sind komprimierte informierende Bildzeichen, die ohne weiteres entschlüsselt werden können. Gemeinhin dienen sie der visuellen Kommunikation unabhängig von der Sprache, sie dienen also der Überwindung von Sprachbarrieren. Man findet sie gerade dort, wo rasche Verständigung angestrebt wird, zum Beispiel im Straßenverkehr, an Flughäfen, an Bahnhöfen etc., es sind mehr oder weniger globale Zeichen.

Zu sehen sind hier aber Schilder, die nicht den Straßenverkehr, sondern gleichsam den ›Geschlechterverkehr‹ thematisieren. Gesichtslose Frauen in langen Schleiern und Männer bevölkern die Schilder. Wesentlich für Piktogramme ist die Auslösung von Vorstellungsketten, so lesen wir direkt heraus: ›Frauen verboten – Wir müssen draußen bleiben‹ oder ›Frauen dürfen nicht auf die Überholspur, die den Männern vorbehalten ist‹. Die zweckgebundene funktionale Verständlichkeit und Eindeutigkeit der Bildinhalte für möglichst viele Betrachter wird hier ironisch zitiert. Forouhar wirft die Frage auf, inwieweit sich die Beobachtungsschemata reduzieren lassen. Beunruhigend ist, dass solche Muster keineswegs ungewohnt sind – denn wie könnten wir andernfalls diese Piktogramme überhaupt lesen? Forouhar reflektiert die Schematismen, die bei dem Gebrauch von Unterscheidungen eine Rolle spielen, und problematisiert dieses Zeichenrepertoire.

Durch den Tschador der Frauen bietet es sich an, die Schilder im Orient zu situieren. So werden Stereotypisierungen aufgegriffen, die der Ordnung der Geschlechter in arabischen Ländern zugeschrieben werden. Der Raum, der Frauen auf den Schildern zugeteilt wird, ist extrem beengt, kleiner als der der Männer – er wird abgeteilt durch einen roten Balken, sozusagen eine doppelte Grenze. Denn bereits der Schleier definiert die Grenze zwischen weiblichen und männlichen Räumen und markiert die Schwelle von Privat und Öffentlich, von Sehen und Gesehenwerden.[13] Die Schilder sind damit Zeichen für die sexuelle Differenz.

Im Kontext des so genannten ›Kopftuchstreites‹ in Europa können die Schilder Forouhars auch als Reflexion der Grenzziehungen gegenüber dem Fremden gesehen werden. Die männlichen Gestalten darauf sind nicht explizit als ›Araber‹ markiert, sondern bilden eine allgemeine Norm. Das Fremde verschmilzt mit dem Weiblichen. Eine solche Amalgamierung von Orient und Weiblichkeit hat bereits eine lange Tradition. Man denke nur an die Orientalisten des 19. Jahrhunderts. Mit den Schildern werden so Mechanismen der Inklusion und Exklusion dargestellt, die auch heute relevant sind. Der Orient ist das Andere: »In der Universalität der abendländischen Ratio gibt es den Trennungsstrich, den der Orient darstellt«[14], wie Michel Foucault erklärt.

Ähnlich der avantgardistischen Kunst des Konstruktivismus versucht Forouhar eine Elementarisierung der Formensprache, um davon ausgehend zu einer ›neuen Grammatik‹ und ›Syntax‹ des Visuellen zu gelangen. Im Gegensatz zum Konstruktivismus aber operiert Forouhar mit einer Übercodierung der Zeichen, die eine ironische Brechung vorführen. Die Schilder zeigen so deutlich die Klischees, dass sie sie als Klischees vorführen, wie es einer Beobachtung zweiter Ordnung entspricht. Klischee ist hier auch im wörtlichen Sinne zu verstehen als identische Druckform, die sich beliebig oft wiederholen lässt. Auch im Medium des Piktogramms ist bereits die Möglichkeit der Vervielfältigung angelegt. Der ›Schilderwald‹ ist endlos reproduzierbar.

Swanrider
Das ironische Spiel mit Differenzen treibt Forouhar in der Fotoserie Swanrider von 2004 auf die Spitze: Eine Frau im schwarzen Tschador, erkennbar als die Künstlerin, reitet auf einem riesigen weißen Schwan auf einem Fluss. Der Schwarz-Weiß-Kontrast dominiert die Szenerie. Mit einer solchen Schwarz-Weiß-Malerei wird eine Struktur von Märchen aufgegriffen, die durch Dichotomien wie Gut und Böse, Glück und Pech, Schön und Hässlich gekennzeichnet sind. Aufgerufen wird Hans Christian Andersens Erzählung vom hässlichen Entlein, das sich in den wunderschönen Schwan verwandelt: eine Entwicklung vom Außenseiter – denn das vermeintliche Entlein ist aufgrund seiner Andersartigkeit, seiner dunklen Federn, aus dem Entennest verstoßen worden – zum strahlenden Mittelpunkt. Mit solchen Anspielungen auf wundersame Verwandlungen wird die Rolle der fremden Frau im dunklen Tschador ironisiert.

Neben dem Märchenbezug werden Assoziationen an weitere Metamorphosen aus der westlichen Tradition wachgerufen: In Richard Wagners Oper wird Lohengrin, der Ritter in silberner Rüstung, Inbegriff des deutschen ›Urmythos‹, auf einem Nachen von einem Schwan gezogen, der sich später als Gottfried erweist. Als Bühne für ihren eigenen Auftritt wählt Forouhar passenderweise den Ort Bad Ems an der Lahn in Deutschland. In ihren Bildern ist der Schwan jedoch nicht etwa eine Requisite aus einer Lohengrin-Aufführung, sondern ein profanes Tretboot mit Namen Hugo, wie es auf einigen Fotografien deutlich wird. Forouhar eignet sich diesen als ›urdeutsch‹ ausgewiesenen Mythos an, verfremdet ihn buchstäblich, indem sie ihn konfrontiert mit der als fremd markierten Schleierfrau.

Das Tretboot konterkariert zudem den Bezug zum Ledamythos, in dem der antike Gott Zeus sich der schönen Jungfrau Leda in Gestalt eines Schwans nähert. Solche Fruchtbarkeitsmythen werden umgekehrt – nicht Zeus bedeckt die Frau, sondern der Tschador breitet sich ornamental auf dem Schwan aus. Dennoch lassen sich traditionelle Bildstrukturen des Leda-Motivs wiedererkennen, etwa wenn der lange, geschwungene Hals des Vogels mit der Frau und ihrem Gewand parallelisiert wird.

Indem Forouhars Werk in seinen vielfältigen Bezügen auf Mythen vom Urgermanischen und vom Griechischen als so genannter Wiege der europäischen Kultur lesbar ist, greift es ein Sinnarsenal auf, mit dem die westliche Gesellschaft ihr Eigenes konstruiert und definiert, das heißt abgrenzt. Dieses Terrain des ›Eigenen‹ wird von Forouhar ironisch besetzt. So ist dieses Werk Forouhars auf eine westlich geprägte Rezeption angelegt; im Iran fehlt gemeinhin der Kontext, um die Anspielungen auf westliche Traditionen zu entschlüsseln.

Zu den Anspielungen des Werks gehört nicht zuletzt die Referenz auf Actionfilme und Computerspiele wie die Serie Tomb Rider in der sich eine Frau in hautenger Kleidung mit Waffengewalt durchsetzt. Die Assoziationsketten von Schleier, Islam, Terrorismus, die seit dem Anschlag auf das World Trade Center in New York medial immer wieder aufgerufen werden, brechen wiederum mit der märchenhaften Idylle.

Folter im Daumenkino
Auch Forouhars Daumenkino aus der Serie Tausendundein Tag[15] von 2003 bezieht sich auf Massenmedien: Computergenerierte Comicfiguren agieren darin, die bei der traditionellen Strafpraxis der Steinigung zu sehen sind (siehe fortlaufende Abb.). Dadurch entsteht eine Spannung zwischen den verbreiteten Konventionen des Mediums ›Daumenkino‹ und dem Dargestellten: Den Erwartungen an ein slapstickhaft-komisches Geschehen wird nicht entsprochen, stattdessen ist der Akt von einer als archaisch konnotierten Brutalität. Die Gewaltsamkeit und der Ernst des Vorgangs sind allem kindlich Spielerischen entgegengesetzt und sie lassen sich nicht durch die Nähe zum Comic und durch die ›Handlichkeit‹ des Daumenkinos verniedlichen. Vielmehr treten sie durch diesen Kontrast erst hervor. Walter Benjamin spricht in seinem Kunstwerk-Aufsatz von dem Anliegen der Massen, sich die Dinge »räumlich und menschlich ›näherzubringen‹« und von der »Tendenz zur Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion«.[16] Das Daumenkino greift diesen Aspekt der Reproduzierbarkeit auf: Eine Strafpraxis, die – etwa nach Foucault[17] – in der Moderne kaum noch sichtbar ist und in einer anderen, früheren Zeit ausgestellt wurde, diese Strafpraxis wird im Kleinformat zur Unterhaltung dargeboten.

Eine genuine Zeitstruktur des Daumenkinos liegt im schnellen Wechsel der Bilder, in der Kürze des ablaufenden Films und in seiner Wiederholbarkeit. Das Moment der Iteration verweist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt auf die zyklischen Strukturen des Mythos und auf die ›ewige Wiederkehr des Gleichen‹ in der als archaisch geltenden Strafpraxis.[18]

In den Massenmedien der westlichen Gesellschaft erscheint das Orientalische und Arabische nicht nur als ›anderer Ort‹, als Heterotopie im Sinne Michel Foucaults[19], vielmehr wird es auch in einer anderen Zeit situiert, so dass man von einer Heterochronie sprechen könnte: Es nimmt eine ähnliche Stelle wie das Archaische oder auch das Mittelalterliche ein, indem es in eine ›dunkle Vorzeit‹ projiziert wird, die die westliche Gesellschaft überwunden haben soll. Im Anschluss an Edward W. Saids 1978 erstmals veröffentlichte Abhandlung Orientalism[20] kann Orientalismus als ein westlicher Diskurs bezeichnet werden, in dem der scheinbar aufgeklärte Westen einen ›mysteriösen Orient‹ entwirft. Für diesen Diskurs sind visuelle Repräsentationen der Gegensätze ›altertümlicher Orient‹ und ›moderner Westen‹ zentral, so dass den Bildmedien besondere Bedeutung zukommt. Wie Linda Nochlin gezeigt hat, definiert sich bereits in historistischen Bildern des 19. Jahrhunderts der vom Westen beanspruchte Fortschritt, indem gewaltsame Strafpraktiken in den angeblich rückständigen Orient projiziert werden.[21]

In der Arbeit Forouhars wird insbesondere diese Zeitauffassung, die der Imagination des Orients inhärent ist, problematisiert. Die technischen Bilder der Medien, die selbst mit dem Nimbus des Fortschritts verbunden sind, finden eine Kontrafaktur und zum Teil auch Persiflage in der künstlerischen Technik. Nicht von ungefähr werden massenmediale Formen wie Piktogramm, Comicstrip und Daumenkino aufgegriffen und im Sinne einer Reflexion auf ihre gewöhnliche Verwendung vorgeführt.

Mit dem Daumenkino wird jedoch der Abstand zwischen dem ›fortschrittlichen‹ Westen und dem ›zurückgebliebenen‹ Orient reduziert. Entscheidend ist die taktile Nähe des Mediums, das der Rezipient buchstäblich ›in der Hand hält‹: Indem der Betrachter mit dem Daumen das Kino aktiviert, ist er selbst an der Tat beteiligt. Erst weil er im wörtlichen Sinne seine Finger im Spiel hat, wird der Stein geworfen. Die Dichotomien von Zuschauer und Akteur sowie Opfer und Täter werden konterkariert. Der Betrachter wird dazu angehalten, seine Position zu reflektieren und damit gleichsam einen Beobachterstandpunkt zweiter Ordnung einzunehmen. Die Grenze zwischen dem zivilisierten westlichen Betrachter und dem scheinbar fernen Geschehen gerät in Bewegung.

Schluss
In der Kunst Parastou Forouhars werden Schematismen der alltäglichen Beobachtung des Fremden spielerisch, reflexiv und ironisch aufgegriffen und hinterfragt. Die Technik, mit der das geschieht, ist eine Beobachtung zweiter Ordnung: Diese legt die Demarkationslinien offen, mit denen der Orient konstruiert wird.
Damit schreibt sich das Werk selbst keine ›authentisch‹ iranische Künstlerinnen-Identität zu, sondern beobachtet, wie solche Zuschreibungen erfolgen. Auf dieser Linie liegt die Selbstreflexion der Künstlerin, wenn sie von sich erklärt: »Als ich vor zehn Jahren nach Deutschland kam, war ich Parastou Forouhar. Aber im Laufe meines Studiums an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach (…) wurde ich immer mehr zu der ›Perserin‹«.[22] Ebenso wie diese Aussage zeichnen die Arbeiten die Funktionsweise von Unterscheidungen nach. Insofern beruht Forouhars Technik auf einem Unterscheiden des Unterscheidens.
Was ich an ihrem Werk exemplarisch umrissen habe, wäre auch im Hinblick auf andere Künstlerinnen und Künstler des postkolonialen Umfeldes zu untersuchen. Dadurch könnte der Ansatz weitergedacht werden, um Geschlechterforschung, Postcolonial Studies und Systemtheorie in der Kunstgeschichte produktiv miteinander zu verflechten.

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[1] Vgl. Donna Haraway: »Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive«, in: Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen. Hg. und eingeleitet von Carmen Hammer und Immanuel Stieß, Frankfurt/New York: Campus 1995, S. 73-97.
[2] Erste Ansätze finden sich in: Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius: »Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte«, in: Dies. (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur angloamerikanischen Multikulturalismus-Debatte. Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 1-29, v.a. S. 23ff.
[3] D. Haraway: »Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften«, in: D. H.: Die Neuerfindung der Natur, S. 33-72, hier S.33.
[4] Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt: Suhrkamp 1991.
[5] Vgl. ebd., S. 203.
[6] Vgl. ebd. und Hannelore Bublitz: Judith Butler zur Einführung, Hamburg: Junius 2002, S. 92ff. Indessen ist Parodie nicht per se subversiv. Sie kann nur dann irritieren, wenn das Konstrukt des Sexus als phantasmatischer Identitätseffekt deutlich wird und sich so als kontingent erweist. Vgl. J. Butler: Unbehagen der Geschlechter, S. 204.
[7] Butler bezieht sich explizit auf Bhabha. Vgl. Dies.: Körper von Gewicht. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, v.a. S. 372, Anm. 159.
[8] Vgl. Homi Bhabha: Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 93. Siehe dazu auch den Beitrag von Markus Schmitz in diesem Band.
[9] Luhmann verwendet diesen Begriff im Anschluss an Heinz von Foerster. Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 92ff. Vgl. dazu auch Georg Kneer/Armin Nassehi: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. München: Fink/UTB 1993, S. 95ff.
[10] Vgl. Ernst Behler: Ironie und literarische Moderne. Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh 1997, insbes. S. 324-327. Norbert Bolz bezeichnet überdies Ironie am Beispiel Duchamps als Beobachtung dritter Ordnung: »Marketing als Kunst oder: Was man von Jeff Koons lernen kann«, in: ders./ Cordula Meier/ Birgit Richard/ Susanne Holschbach (Hg.): Riskante Bilder. Kunst, Literatur, Medien. München: Fink 1996, S.129-136, hier S. 130. Zur Anwendung auf künstlerische Ironie im Kontext des Postkolonialismus vgl. Alexandra Karentzos: »Manifest für Ironiker/innen. Zur Kunst der Beobachtung«, in: dies./ Sabine Kampmann/ Thomas Küpper (Hg.): Gender Studies und Systemtheorie. Studien zu einem Theorietransfer. Bielefeld: transcript 2004, S. 159-177.
[11] Vgl. den Hinweis auf Butler bei Armin Nassehi: »Geschlecht und System. Die Ontologisierung des Körpers und die Asymmetrie der Geschlechter«, in: Ursula Pasero/Christine Weinbach (Hg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 80-104, hier S. 88.
[12] Bilder lassen sich systemtheoretisch als Elemente des Kunstsystems fassen und das Werk als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium desselben. Vgl. bezogen auf Literatur Gerhard Plumpe: Ästhetische Kommunikation der Moderne, Opladen: Westdeutscher Verlag 1993. Bd. 2, S. 293ff.; bezogen auf das Kunstsystem N. Luhmann: Kunst der Gesellschaft.
[13] Vgl. dazu Viktoria Schmidt-Linsenhoff: »Der Schleier als Fetisch. Bildbegriff und Weiblichkeit in der kolonialen und postkolonialen Fotografie«. In: Fotogeschichte. Jg. 20, 2000, Heft 76, S. 25-38.
[14] Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S. 10.
[15] Siehe dazu: Parastou Forouhar. Tausendundein Tag. Ausst.-Kat. Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof Berlin, Köln: Verlag Walter König 2003.
[16] Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 3. Fassung, in: W.B.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, Bd. II, S. 471-508, hier S. 479.
[17] Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994.
[18] Wie fragwürdig es ist, die Folter als Strafinstrument nur in vergangenen Gesellschaften zu situieren, ist offensichtlich. Vgl. etwa zur Verbindung von moderner Bürokratie und traditioneller Strafpraxis Taner Akcam: »Die ›Normalität‹ der Folter. Die Wahrnehmung von Gewalt in der Türkei«, in: Jan Philipp Reemtsma (Hg.): Folter. Zur Analyse eines Herrschaftsmittels. Hamburg: Junius 1991, S. 155-186.
[19] Vgl. Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Karl Heinz Barck u.a. (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik; Essays. Leipzig: Reclam 19935, S. 34-46.
[20] Edward W. Said: Orientalism. London: Penguin 2003.
[21] Linda Nochlin: »The Imaginary Orient«. In: Osterwold, Tilman/ Pollig, Hermann (Hg.): Exotische Welten. Europäische Phantasien. Ausst.-Kat. Institut für Auslandsbeziehungen und Württembergischer Kunstverein, Stuttgart, Bad Cannstatt: Edition Cantz 1987, S. 172-179.
[22] zit. nach Hubert Salden: Parastou Forouhar. In: 2. Berlin Biennale, Ausst.-Kat. Berlin, Köln: 2001, S. 82